Es war einmal

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Es war einmal

Es war einmal eine mächtige Herrscherin, die mit ihrem Sohn in einem wunderschönen Schloss am Meer lebte. Ihr Mann, der König, war früh gestorben, so dass sie sich alleine um die Regierungsgeschäfte kümmerte.

Als der 25. Geburtstag ihres Sohnes nahte, überkam die Königin eine große Unruhe. Ihr Sohn war erwachsen geworden, würde heiraten und, so befürchtete sie, seine Frau mehr lieben als seine Mutter. Dieser Gedanke ließ sie nächtelang nicht schlafen und sie beschloss, die Mädchen selbst zu suchen, unter denen der Königssohn an seinem Geburtstag eine Gemahlin wählen sollte. Dem Königssohn war das recht. Schließlich war er daran gewöhnt, dass seine Mutter alle Entscheidungen traf. Bis zu seinem Geburtstagsfest wollte er sich mit seinen Freunden bei Jagdausflügen und Reitturnieren vergnügen.

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Bald ließ die Königin im ganzen Land die Kunde von der Brautschau des Königssohnes verbreiten. Dafür waren alle jungen Mädchen zwischen 16 und 18 Jahren zu einem Fest eingeladen. Königliche Berater würden die schönsten und anmutigsten unter ihnen auswählen. Diese durften dann vor die Königin treten, um sich einer weiteren Prüfung zu unterziehen. Nur die Mädchen, die das Wohlwohlen der Königin für sich gewinnen konnten, wurden dem Königssohn schließlich vorgestellt.

Die Nachricht über die Brautsuche des Königssohnes verbreitete sich rasch und kam auch Paradise zu Ohren. Paradise lebte mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter in einem kleinen Haus am Fluss. Ihre Mutter war gestorben als sie sieben Jahre alt war. Der Vater hatte wenig später wieder geheiratet und seitdem kümmerte sich die Stiefmutter um das Mädchen, da der Vater oft tagelang unterwegs war. Die Stiefmutter mochte Paradise, doch hatte sie sich ihr Leben anders vorgestellt und träumte selbst von Reisen in die große Welt.

Paradise erzählte ihrer Stiefmutter vom königlichen Aufruf. Wie alle Mädchen hoffte sie, vom Prinzen auserwählt zu werden. Die Stiefmutter aber witterte sogleich die Gelegenheit, durch Paradise zu Macht und Reichtum zu gelangen und ihrem Alltag zu entfliehen. So waren sich beide rasch darüber einig, dass Paradise der Einladung folgen sollte. Allein der Vater mahnte, dass ein solcher Handel nichts Gutes bringen würde.

„Was redest du da, Mann?“, schimpfte ihn seine Frau, „keiner geht es besser als der Frau des Königssohnes.“ Damit wandte sie sich ab und ließ ihn traurig stehen.

Bei den Worten der Stiefmutter empfand Paradise Mitleid mit ihrem Vater, doch schon wurde sie von ihr fortgezogen und mit begeisternden Worten überschüttet. Schnell vergaß Paradise ihren Vater und suchte gemeinsam mit ihrer Stiefmutter die schönsten Kleider aus, probierte die raffiniertesten Frisuren und übte die charmantesten Posen.

Am Tag des Festes, begleitete die Stiefmutter Paradise bis zum Schlosstor. Dort mahnte sie:
„Mein Täubchen, vergiss nicht, dass von diesem Tag deine Zukunft abhängt. Du musst alles tun, damit du vor die Königin treten darfst“.

Überzeugt betrat Paradise den großen Festsaal. Sie kam sich vor wie in einem Taubenschlag. Überall flatterten und gurrten hübsche Mädchen herum und warteten darauf, in den Himmel zu fliegen.

Schließlich betraten die königlichen Berater den Saal und machten sich daran, jedes einzelne Mädchen von allen Seiten zu begutachten. Am Ende jeder Inspektion verkündeten sie ihr Urteil, das oft sehr hart ausfiel. Viele Mädchen brachen darüber in Tränen aus und verließen schluchzend den Festsaal. Paradise spürte, dass die Angst zu versagen, wie eine dunkle Wolke über ihr hing und hoffte nicht im Regen stehen zu bleiben.

Als die königlichen Berater zu ihr traten, versuchte sie ihr freundlichstes Lächeln und auch während sie von allen Seiten begafft wurde, hielt sie tapfer daran fest. Als jedoch eine Hand auf ihrem Po klatschte, blieb ihr das Lächeln im Halse stecken. Wütend drehte sie sich um.

„Nun guck nicht so, du Ding“, scherzte der Berater, „freu dich, du darfst der Königin unter die Augen treten. Allerdings solltest du dir bis dahin deine Haare glätten. Seine Majestät mag keine Locken.“

Damit wurde sie nach Hause geschickt. Paradise wusste nicht, ob sie sich freuen oder ob sie weinen sollte. Unwillkürlich dachte sie an ihre Mutter, wie sie ihre Locken geduldig und voller Liebe gekämmt hatte, und Tränen stiegen in ihr hoch. Sie wollte ihr Haar und die Erinnerungen nicht glätten.

„Eine andere Frisur bringt Abwechslung in dein Leben. Glatte Haare stehen dir bestimmt gut,“ redete die Stiefmutter ihr zu, „warte nur, bis du erst mal Prinzessin bist, dann kannst du mit deinen Haaren tun, was du willst.“ Der Vater, der das mitanhörte, schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, doch als er dem forschen Blick seiner Frau begegnete, kam kein Wort mehr über seine Lippen.

Ein paar Wochen später brachte ein Kurier die persönliche Einladung zum Empfang der Königin. Die Stiefmutter holte das Glätteisen hervor und redete auf das Mädchen ein, während es stumm auf seinem Stuhl saß und die Veränderung über sich ergehen ließ. Dann begleitete sie Paradise bis zum Schlosstor und schärfte ihr ein, wie wichtig es sei, die Erwartungen zu erfüllen, um ans Ziel zu gelangen.

Langsam ging Paradise zum großen Festsaal. Dort türmten sich die köstlichsten Speisen in goldenen Schüsseln und Diener boten den Mädchen bunte Getränke an. Die herausgeputzten jungen Damen standen in Grüppchen zusammen, manche lachten, andere zappelten nervös herum, während die Hofkapelle vornehme Musik spielte.

Plötzlich trat Stille ein. Die Königin hatte den Saal betreten und setzte sich auf ihren Thron. Das erste Mädchen nahm Platz doch als es zur Antwort ansetzte, begann es zu stottern und wurde umgehend nach Hause geschickt. Das nächste Mädchen redete, als ob es um sein Leben ging und wurde deshalb mit einer Absage bestraft. Dann wurde Paradise nach vorne gebeten.

„Paradise, was für ein schöner Name. Wie kommst du dazu?“, fing die Königin an.

„Meine Eltern haben sich kennengelernt, weil mein Vater meiner Mutter einen Paradiesapfel geschenkt hat. Das war der Anfang ihres Glücks, das ihnen mit meiner Geburt vollkommen schien, daher haben sie mir diesen Namen gegeben“, antwortete Paradise.

Die Königin fragte weiter: „Und, haben sie es je bereut, dich so genannt zu haben?“

Die Frage traf Paradise im Herzen und sie stockte. Dann erzählte sie vom Tod ihrer Mutter und der zweiten Heirat ihres Vaters.

Die Königin hörte aufmerksam zu und stellte ihr eine letzte Frage: „ Sag, Mädchen, was hat ein Paradiesapfel so Besonderes an sich?“

„In unserem Garten wächst der schönste Paradiesapfelstrauch weit und breit. Meine Großmutter hat ihn gepflanzt und mein Vater hegt und pflegt ihn noch heute. Jedes Jahr trägt er die köstlichsten Früchte. Sie begleiten uns über den Winter und schenken uns Hoffnung und Farbe in den kalten, grauen Wintermonaten. Denn jede Frucht trägt Hunderte blutroter Kerne in sich, als Zeichen für die Fruchtbarkeit und das Leben“, antwortete Paradise.

Der Königin gefiel die Antwort, und sie übergab Paradise eine Einladung für das anstehende Geburtstagsfest.

Damit war Paradise entlassen. Vor dem Schloss übergab sie ihrer Stiefmutter schweigend den Brief, die alsbald in Tränen der Erleichterung ausbrach. Paradise ließ sich umarmen und antwortete auf alle ihre neugierigen Fragen, konnte selbst jedoch keine Freude empfinden.

Diese dritte Einladung war mit der Aufforderung verbunden, ein Geschenk für den Königssohn mitzubringen. Die Stiefmutter selbst wollte sich darum kümmern und besorgte eine wertvolle Vase. Sie war handgefertigt und kunstvoll bemalen. Am Tag vor dem Fest passierte es jedoch, dass Paradise die Vase aus Versehen fallen ließ und sie in Tausend Stücke zersprang. Der Vater entdeckte das Mädchen, wie es weinend am Boden saß und versuchte, die Scherben zusammenzukleben.

„Stiefmutter wird so enttäuscht sein“, schluchzte das Mädchen, und der Vater nahm es in die Arme.
„Ich werde dir ein anderes Geschenk besorgen“, tröstete er seine Tochter und kam bald darauf mit einem Paket zurück, das genauso aussah wie jenes der Stiefmutter.

„Hast du eine zweite Vase gefunden?“, fragte Paradise

„Nein, es ist ein viel schöneres Geschenk. Vertrau mir!“, erklärte ihr der Vater geheimnisvoll, „ich habe es nur genauso verpackt wie die Vase, damit niemand etwas von dem kleinen Malheur erfährt“.

Als der Geburtstag des Königssohnes gekommen war, brachte die Stiefmutter Paradise wieder bis zum Schlosstor und trug ihr auf, ja nichts falsch zu machen.

Die Fahnen des Reichs wehten von den Zinnen des Schlosses und die Fanfaren spielten, als Paradise den mit Blumen geschmückten Festsaal betrat. Wieder spielte die Musik und Diener bewirteten die zahlreichen Gäste. Schließlich kamen auch die Königin und ihr Sohn und nahmen Platz, damit die geladenen Mädchen ihre Geschenke und Glückwünsche überbringen konnten.

Als Paradise bemerkte, dass jedes Geschenk bei der Übergabe geöffnet wurde, fror ihr das Blut in den Adern vor Schreck. Was hatte ihr Vater wohl gefunden, das schöner und passender sein konnte als die Vase, fragte sie sich und konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Als sie an der Reihe war, starrte sie so sehr auf den Diener, der ihr Geschenk öffnete, dass sie fast vergessen hätte, dem Königssohn zu gratulieren. Bevor dieser allerdings antworten konnte, schrie die Königin: „Was ist das? Was fällt dir ein, du kleines, dummes, unwichtiges Ding!“

Paradise war sprachlos. Ihr Vater hatte einen Paradiesapfel eingepackt.

Da stand die Königin von ihrem Thron auf und schmetterte ihn auf die Erde, wo er zerplatzte und seinen Saft wie Blut in alle Himmelsrichtungen spritzte. Paradise starrte auf die rote Frucht am Boden. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sagte: „Es ist das, was du aus mir machen wolltest“. Dann stand sie befreit auf und verließ den Festsaal, ohne ein weiteres Wort zu sagen.