Die Silbermöwen

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Die Silbermöwen

Seit ein paar Tagen standen die Zeichen auf Paarung.

Es war März. Einige der Männchen versuchten bereits, sich auf den Rücken der Weibchen in Stellung zu bringen. Besonders bei einem der Pärchen funktionierte das schon recht gut. Das Weibchen verhielt sich ruhig, das Männchen musste keine akrobatischen Leistungen vollbringen, um den Fortbestand der Spezies zu sichern. Richard war sich sicher, dass es sich dabei um Team 32 handelte. Das Dream Team vom letzten Jahr, das 4 Junge großgezogen hatte.

Silbermöwen zu beobachten war Richards Lebenssinn, das Geld verdiente er als Mitarbeiter im örtlichen Katasteramt. Seit ihm als Achtjährigem eine Silbermöwe genau in dem Moment in sein Wasserglas geschissen hatte, als er trinken wollte und er daraufhin nichts mehr runterbrachte, während seine Eltern und sein Bruder gelacht, von ihrem mit Legionellen versetzten Wasser getrunken hatten und im Krankenhaus gelandet waren, fühlte Richard sich diesen Tieren verbunden.

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Wenn Kinder ihre Eltern fragten, wer der große, dünne Mann auf dem Fahrrad sei, dann antworteten die gutmütigen unter ihnen „Richard Möwenherz, der unterwegs ist, seine Möwen zu retten“.

Richard merkte nichts davon, er führte sein Leben im Verborgenen, draußen in den Dünen und tauchte immer dann in den Foren der Vogelkundler auf, wenn es um die Rechte seiner Silbermöwen ging. Sein Interesse für die Silbermöwen war seit Jahren ungebrochen, während jenes für die Zweibeiner zusehends verkümmerte. Auf seinen Touren begleiteten ihn daher Fahrrad, Wasserflasche, Fernrohr und Digitalkamera. Nicht, dass er sich nicht auch manchmal Freunde oder eine Partnerin gewünscht hätte, aber er wusste einfach nicht, woran er so jemanden hätte erkennen können.

Richard trat in die Pedale, der Fahrtwind war noch kalt, auch wenn die Sonne schien. Als er am Strand sein Fahrrad abschloss, düste eine Gruppe Jungen auf ihren Bikes an ihm vorbei. Einige hatten eine Bierkiste hinten drauf, woraufhin Richard die Dünen in der entgegengesetzten Richtung wählte.

In seinem Versteck angekommen, trank er einen Schluck Wasser und holte Fernglas und Notizbuch heraus. In der beruhigenden Annahme darüber, dass hier keine Leute unterwegs sein würden, legte er sich gespannt auf die Lauer.

Team 32 war da, Team 22 ebenso. Letztere zankten sich mal wieder und Richard fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie sich neue Partner suchen würden. Am Boden hielt sich das Männchen aus Team 18 abseits und schien auf seine Partnerin zu warten. Richard durchforstete den Himmel und das Meer, doch auch er konnte sie nicht finden. Wenn er es sich recht überlegte, fehlte schon seit einer Weile jede Spur von ihr. Noch bevor er den letzten Eintrag im Notizbuch finden konnte, ging hinter seinem Rücken ein solch wildes Gekreische los, dass Richard alarmiert nach dem Fernglas griff.

„Welcher Vollidiot gibt den Möwen Brot? Kein Brot an Wasservögel. Das weiß doch jeder!“, ärgerte er sich. Nun war es so, dass er sich tagelang über Zwischenfälle ärgern konnte, die seine Möwen betrafen. Richard selbst empfand dies als anstrengend und um sich selbst etwas Gutes zu tun, hatte er sich angewöhnt, immer dann, wenn wer er sich ärgerte, einen Schluck Wasser zu trinken und großes imaginäres Loch zu schaufeln, um seine Wut bildlich darin zu vergraben.

Während er sich also umdrehte, grub er im Kopf sein Loch und trank einen Schluck Wasser. „Wieder mal so eine Tussi aus der Stadt, die die Welt retten will und dabei alles nur schlimmer macht“, schob er nach und begann damit das Loch wieder zuzuschütten.

Als er seinen Blick wieder Richtung Strand richtete, bemerkte mit Erleichterung, dass die Frau sich in Bewegung gesetzt hatte und an seinem Versteck vorbei den Strand entlang weiterging.

Zwei Tage später, Richard war wieder auf Beobachtungsposten und beobachtete gerade Team 32 beim Liebesspiel, brach das Chaos erneut aus und zerstörte jegliche Eintracht.

„Was zum Teufel“, fluchte Richard und begann auch gleich ein Loch auszuheben. Gleichzeitig zoomte er den futterbringenden Eindringling näher ran und erkannte auf Anhieb die Frau vom Tag zuvor. „Schon wieder die! Kommt die jetzt jeden Tag?“, zeterte er leise los, drehte sich um und grub noch ein Stückchen weiter, bevor er einen Schluck Wasser nahm. Als er wieder hinsah, war sie bereits an ihm vorbei.

Als wäre er vorgewarnt gewesen, entdeckte Richard die Frau ein paar Tage später bevor das Geschrei der Möwen ihn auf sie aufmerksam machte. Er dachte bereits daran, vorsichtshalber sein Loch aufzuwerfen, da entschied er anders und nahm sie genauer unter die Lupe. Die Frau warf den Möwen wieder Brot hin und setzte gleich darauf ihren Weg fort. So wie manche Menschen den Fernseher einschalten, wenn sie in die Wohnung kommen und dann nicht hinsehen, so schenkte diese Frau den Möwen ihre Aufmerksamkeit nur für den Moment des Fütterns. Im Geschrei der Möwen zog sie weiter. Das verwirrte Richard.

Als er sie das nächste Mal sah, ging sie wieder geradewegs zu den Möwen, fütterte sie und spazierte am Strand entlang weiter. Richard beobachtete sie durch sein Fernglas. Da hob sie ihren Kopf und sah geradewegs in seine Richtung. Ihr Blick ging plötzlich direkt durch seine Linse bis mitten in sein Herz und befahl ihm still zu stehen. Richards Herz gehorchte und traute sich erst weiter zu schlagen, als sie ihren Blick abwendete. Dann raste es laut trommelnd der verlorenen Zeit hinterher, auch dann noch als die Frau längst an Richard vorbeigegangen war.

Am nächsten Tag kam die Frau nicht und Richard ging früher als gewöhnlich nach Hause.

Als sie wieder am Strand auftauchte schluckten die Möwen das mitgebrachte Futter als wären sie am Verhungern. Richard war nicht minder gierig und studierte sie von Kopf bis Fuß. „Sie ist schön. Kein Firlefanz, kein unnötiger Schnick Schnack. Wunderschön und allein,“ durchströmte es ihn.

Auch in den nächsten Tagen enttäuschte sie ihn nicht. Sie kam, warf den Möwen Futter hin und wanderte inmitten des Geschreis weiter, die Blicke tief in die Dünen oder weit auf das Meer hinaus. Richard holte seine Digitalkamera heraus. Auf Bildern gehen keine Details verloren.

Zurück in seiner Wohnung setzte er sich an den Computer. Der Zauber, der sein Herz berührt hatte, ging nun auch auf seine Augen über. Richard meinte immer neue Ähnlichkeiten mit seinen Silbermöwen zu erkennen. Da war der Mund, verschlossen, still. Nicht wie bei anderen Menschen, die pausenlos lächelten oder redeten. Die vollen Lippen, die aufeinander ruhten, gaben keine Miene preis. Runde, schwarze Augen, die ins Leere sahen, doch denen keine Gefahr entging.

Soweit konnte Richard seine eigenen Überlegungen noch mit einer gewissen Belustigung betreiben, was ihn aber wirklich stutzig machte, war die Art, wie sie den Kopf hielt, so ruhig und erhaben, lange auf die Dünen gerichtet, den Strand oder das Meer. Niemals hastig, immer zielsicher.

Um es kurz zu machen, Richard begann auf die Frau zu warten. Sie tauchte regelmäßig alle paar Tage für ein paar Minuten auf und verschwand dann wieder hinter der nächsten Strandbiegung.

Richard machte Bilder, sammelte sie, wie er einst als Kind Möwenfedern gesammelt hatte und träumte abends im Bett von Begegnungen und gemeinsamen Abenteuern und konnte oft lange nicht einschlafen.

Als Richard am nächsten Morgen sein Fahrrad Richtung Straße schob, kam hinter der Hecke eine Nachbarin vorbei, die plötzlich ihren Hund an der Leine zog und mit ihm zu reden anfing. Richard war es gewöhnt, dass Menschen Wichtigeres zu tun hatten als ihn zu grüßen, wenn sie sich begegneten, doch diesmal traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel: „Sie weiß, dass ich da bin, sie weiß, dass ich sie beobachte”. Richard sprang zurück ins Haus und sah sich die letzten Bilder nochmal an. “Da muss noch mehr sein, quälte er sich und langsam formte sich eine Überzeugung in ihm: “Sie will beobachtet werden und wartet jetzt darauf, dass ich den nächsten Schritt mache”. Wie die Sonne plötzlich hinter einer Wolke hervorkommt und alles überflutet, so legte sich die Hoffnung über seine Seele.

Voller Vorfreude radelte er zum Strand und brachte sich in Position. Er wollte sie mit neuen Augen sehen, sich zu erkennen geben. Heute, morgen, übermorgen, ihm fehlte noch ein Plan.

Sie kamen von hinten. Er hatte sie nicht bemerkt. Erst als sie ihn riefen, drehte er sich um. Zwei Polizisten, der eine sagte: „Guten Tag. Uns liegt eine Anzeige gegen Unbekannt wegen Stalking vor. Können Sie uns sagen was Sie hier machen?“ Der andere stand stumm daneben.