Im Untergrund

BZ62792 Bearbeitet 2

Im Untergrund

Der Tag beginnt wie jeden Morgen. Sie steht auf, macht sich einen Kaffee und schlürft ihn stehend und aus dem Fenster schauend. Draußen ist es dunkel. An der Scheibe kleben Tropfen. Sie denkt, dass der Regen die Form der Welt verändert, die Lichter schräg und unscharf macht. 
 
Als sie den Kaffee fertig getrunken hat, räumt sie ein paar Sachen vom Abend zuvor weg. Die Decke, mit der sich ihr Mann immer zudeckt, wenn er abends länger fernsieht, die Fernbedienung, das Wasserglas. Es ist noch halbvoll. Sie gießt damit die Zimmerpflanze neben dem Sofa, die wundersamerweise immer noch lebt, obwohl sie pausenlos vergessen wird.
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Sie schaut auf die Uhr, merkt dass es Zeit wird zu gehen und verlässt die Wohnung. Draußen igelt sie sich unter ihrem Regenschirm ein, bis sie die U-Bahnstation erreicht. Dort unten ist es immer trocken, auch wenn die Menschen Regenreste mit sich runtertragen.
 
Sie drängelt sich in die erste U-Bahn, die einfährt, ergattert einen Sitzplatz und schaut auf Jacken, Taschen, Aktenkoffer, Beine. Für alle die sitzen, gibt es nur die untere Hälfte der Fahrgäste, nur den halben Sauerstoff. Auch ihren Blick zieht es nach unten, in die untere Hälfte der Hälfte. Am liebsten würde sie noch ein bisschen schlafen. Nur kurz, flach atmen und ganz leicht werden.
 
Da kommt ihre Haltestelle. Sie steigt als eine der letzten aus und geht Richtung U4. Die meisten Leute biegen links oder rechts ab, gehen hoch, sie muss weiter. Der Hall ihrer Schuhe drängt sich ihr auf. Sie staunt, wie entschlossen und kräftig sie auftritt. Kein Film, in dem der Hall der Stöckelschuhe den Überfall und die Vergewaltigung der Frau ankündigt.
 
Sie läuft am Kiosk vorbei, der geschlossen ist. Ist er das am Morgen immer, fragt sie sich. Sie kann sich nicht erinnern, dass ihr das jemals aufgefallen wäre. Dann biegt sie ab und sieht die Rolltreppen, die sie zur U4 bringen. Sie muss nur noch einen Zwischenstock runter und dann mit einer der drei Rolltreppen hoch.  Immer wenn sie die drei Rolltreppen sieht, weiß sie, dass sie die Erde bald verlassen wird. Zwei Stationen weiter steigt sie überirdisch aus.
 
Die Rolltreppe trägt sie langsam hoch, sie sieht nach oben, dem Ende entgegen. Dann nach unten, zum Anfang. Nach rechts und links. Sie stellt fest, dass sie alleine ist, dreht sich um die eigene Achse.  Hat sie ein Schild verpasst auf dem „Geschlossen“ stand? Sie dreht sich weiter, bleibt rückwärts stehen, während sie weiter nach oben fährt. Der Raum wird ihr mit einem Mal zu groß. Sie will hier nicht länger bleiben. Sie dreht sich wieder um und fängt an, die Treppen hochzusteigen. Oben angekommen eilt sie weiter Richtung U4. Weit und breit keine Menschenseele. Der Rhythmus ihrer Schritte wird schneller, ohne dass es ihr bewusst ist.  
 
Die Geschäfte sind links und rechts alle geschlossen. Es fehlt die Musik. Plötzlich kann sie ihren Atem hören.
 
Sie schluckt und fängt an zu laufen, den Blick nach vorne gerichtet. Sie will, dass dort die Erlösung liegt. Als sie um die Ecke biegt, bleibt sie sofort stehen. Unter ihr liegen die drei Rolltreppen der U4. Das kann nicht sein, denkt sie und sieht nach hinten, weiß nicht mehr, was geschieht. Sie geht ein Stück zurück. Sie ruft „Hallo. Ist da jemand?“
 
Keine Antwort. Sie versteht nicht, dreht wieder um. Sie ruft noch einmal, diesmal lauter und geht nach unten. Vor den drei Rolltreppen bleibt sie stehen, unschlüssig, was sie tun soll. Plötzlich bleibt die Treppe stehen. Nur ein leises Surren ist zu vernehmen, das von einer Totenstille geschluckt wird. Sie blickt zur Seite und nach oben, sucht nach Videokameras und Tönen.
 
Nimm dich zusammen, mahnt sie sich. Denke, denke nach – es muss eine Erklärung für all das geben. Sie kann nicht stehenbleiben, kann nicht denken. Sie nimmt sich sich ein Herz und nähert sich der Rolltreppe. Der Bewegungsmelder löst tosend die Motorik aus. Unsicher betritt sie die erste Stufe und spürt ihre eigene Unsicherheit. Ihr Puls rast, während ihre Beine stillstehen.  
 
In der Mitte hält sie‘s nicht mehr aus. Sie springt die Stufen hoch, hechtet den Gang hinunter. Sie will nur noch raus. Im nächsten Augenblick sieht sie die drei Rolltreppen und spürt, wie Tränen in ihr emporsteigen. Sie stürzen aus ihr hervor, stürzen die Rolltreppe runter werden sie im nächsten Moment wie eine Flutwelle mit sich fortreißen.
 
Da dringt eine Stimme bis zu ihr, nimmt sie an der Hand und führt sie nach draußen. Der Mann hört nicht auf zu reden und nur langsam wird ihr klar, dass er versucht sich zu entschuldigen. Er hätte nicht bemerkt, wieviel Regenwasser sich in seiner Hutkrempe angesammelt hatte.